In der UdSSR unter Josif Stalin war der einfache Mann – mit seinen einfachen Freuden, seinem einfachen Leben und seinem einfachen Wunsch, ein ruhiges, friedliches Leben zu führen – nur eine Einheit in den Regierungsakten. Dem allmächtigen Staat war es egal, wie sehr sich dieser Mensch an seine Heimat gewöhnt hatte, wie viele Vorfahren er auf dem nächsten Friedhof begraben hatte und wie viel Mühe seine Eltern in den Bau eines Hauses investiert hatten. Mit einem Federstrich wurden ganze Nationen all dessen beraubt und Tausende von Kilometern in „unerschlossene“ Gebiete deportiert. Viele von ihnen landeten in Kasachstan.
Wie die Deportationen begannen
Deportationen sind politische Repressionen, die gewaltsame Vertreibung großer Menschengruppen auf Anweisung „von oben“ sowie deren Trennung von ihrem gewohnten Lebensraum. Solche Repressionen finden immer außergerichtlich statt.
Schon im Russischen Zarenreich gab es Deportation ganzer Völker. Bei der Eroberung des Kaukasus beispielsweise wurden die Tscherkess:innen zwangsweise in das Osmanische Reich umgesiedelt. Dieses Ereignis wird auch Völkermord an den Tscherkess:innen genannt. Auch während des Ersten Weltkriegs nahmen Deportationen ein erhebliches Ausmaß an. Damals wurden Einwanderer:innen aus Deutschland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, deren Loyalität von der zaristischen Führung angezweifelt wurde, in entfernte Regionen des Landes deportiert. Die Deutschen litten zahlenmäßig am stärksten unter solchen Maßnahmen (etwa 330.000 Menschen), aber auch Österreicher:innen, Ungar:innen, Pol:innen und Jüd:innen waren betroffen.
In der Sowjetunion begannen 1930 die ersten wirklichen Massendeportationen, die zu einem wichtigen Bestandteil der Entkulakisierung wurden. Die Kulak:innen – wohlhabende Bäuer:innen – wurden ihres gesamten Eigentums beraubt, woraufhin sie zur „Entwicklung“ der dünn besiedelten und industriell weniger entwickelten Regionen des Landes geschickt wurden. Formell beraubte niemand solche „Sondersiedler:innen“ ihrer Freiheit, aber in der Praxis wurde ihnen das Wahlrecht entzogen und es wurde ihnen verboten, das Gebiet der „Sondersiedlungen“ zu verlassen.
Kasachstan wurde nicht zufällig als Ziel der Deportationen gewählt. Die nomadische Bevölkerung empfand ihre Steppen als natürlichen Lebensraum, in dem die vernünftigste Existenzweise die nomadische Viehzucht war. Für die sowjetische Führung war die Steppe jedoch ein leerer Raum, der mit Inhalt gefüllt, rationalisiert und unterworfen werden musste. Die Deportierten – zuerst Kulak:innen, dann verschiedene Völker – waren für diesen Zweck bestens geeignet. Auf Kosten ihrer Arbeitskraft wurden Hunderte neuer Felder gepflügt und die Landwirtschaft in den Deportationsgebieten entwickelt.
Insgesamt wurden mehr als zwei Millionen Bäuer:innen im Rahmen der Entkulakisierung unterdrückt. Viele von ihnen starben auf dem Weg zu ihren neuen Wohnorten, den Rest erwartete Zwangsarbeit unter schrecklichen Lebensbedingungen.
Mitte der 1930er Jahre ging die UdSSR vor dem Hintergrund wachsender Spannungen in der Welt erstmals zu ethnischen Deportationen über. Im Rahmen dieser Politik wurden die in den Grenzregionen lebenden Völker zwangsumgesiedelt: Finn:innen, Deutsche und Pol:innen im Westen, Kurd:innen und iranische Jüd:innen im Süden, Koreaner:innen im Osten.
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Die sowjetische Führung „bearbeitete“ die Grenzen im [umgekehrten, Anm. d. Red.] Uhrzeigersinn: Zuerst vertrieb sie die ingrischen Finn:innen aus Karelien und dem Leningrader Gebiet, zog dann über die Westgrenze in den Kaukasus und nach Zentralasien und erreichte ganz am Ende die Regionen des Fernen Ostens. Dort fand die erste totale Deportation statt: Zehntausende Sowjet-Koreaner:innen wurden gezwungen, nach Kasachstan zu ziehen.
Pawel Polian, einer der wichtigsten Erforscher von Deportationen, weist in seinen Werken darauf hin, dass insgesamt 10 Völker total deportiert wurden: Koreaner:innen, Karatschaier:innen, Kalmück:innen, Deutsche, Ingusch:innen, Tschetschen:innen, Balkar:innen, Krimtatar:innen, Finn:innen und Ahiska-Türk:innen. Die Gesamtzahl der Deportierten belief sich auf mehr als zwei Millionen Menschen. Die Größe des von ihnen vor der Deportation bewohnten Territoriums (150.000 Quadratkilometer) ist vergleichbar mit der Fläche von Bangladesch. Den vertriebenen Völkern wurde auch die nationale Autonomie entzogen, sofern diese vor der Umsiedlung bestand.
Die meisten dieser Deportationen fanden während des Zweiten Weltkriegs statt und wurden von den Behörden als Kampf gegen angebliche „Spion:innen“ und „Mittäter:innen der Nazis“ dargestellt. Ganze Nationen wurden nur deshalb gewaltsam von ihrem Land vertrieben, weil einige ihrer Vertreter:innen mit dem Dritten Reich kollaborierten.
Dutzende ethnischer Gruppen waren zumindest in Teilen von Repressionen betroffen. Ihre Deportation war zwar nicht vollständig – aber Tausende Menschen mussten dennoch „für immer ohne das Recht, an ihre früheren Wohnorte zurückzukehren“, über weite Strecken umziehen. Gleichzeitig warteten im neuen Mutterland in den meisten Fällen Sondersiedlungen auf sie: hastig gebaute Dörfer mit widrigen Lebensbedingungen, täglicher Meldung beim NKWD und strafrechtliche Sanktionen für den Versuch der „unerlaubten Ausreise“.
Wie die Deportationen ethnisch wurden
Die ersten der totalen Deportationen begannen mit einem Dekret des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der KPdSU (b): „Um das Eindringen japanischer Spionage in das fernöstliche Territorium zu verhindern“, wurden 172.000 Koreaner:innen aus den Gebieten des Fernen Ostens nach Kasachstan und Usbekistan umgesiedelt.
Die Distanz, die die von der Repression Betroffenen überwinden mussten – mehr als 6.000 Kilometer – entspricht etwa der Entfernung von Almaty nach Paris. Sie wurden im Herbst in Güterwagen transportiert, die hastig für die Unterbringung von Menschen umgebaut wurden, wobei in jedem Waggon 5-6 Familien untergebracht wurden. Die Reise dauerte etwa einen Monat – und bei ihrer Ankunft erwartete sie ein grausamer Winter, den sie in Unterständen verbringen mussten.
Korea selbst stand zu diesem Zeitpunkt unter japanischer Besatzung: Viele Koreaner:innen flohen während des Bürgerkriegs in die UdSSR. Infolgedessen wurden die Koreaner:innen aus Angst, japanische Spione könnten unter ihnen sein, deportiert. Gleichzeitig wurden koreanische Kommunist:innen und Intellektuelle massenhaft unterdrückt – insgesamt wurden mehr als 2.500 Menschen festgenommen oder hingerichtet. Interessanterweise hatte das Japanische Kaiserreich kurz davor begonnen, Koreaner:innen von der Grenze zur UdSSR weg zu deportieren: Japan befürchtete, dass sich unter ihnen sowjetische Spione befinden könnten.
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Obwohl die Zwangsumsiedlung von Koreaner:innen die erste vollständige Deportation war, waren ethnische Deportationen zu diesem Zeitpunkt im Allgemeinen bereits zur Norm geworden: Seit 1935 hatte die sowjetische Führung ihre Grenzen aktiv von „unzuverlässigen Elementen“ „gesäubert“.
„Eine unvermeidliche Katastrophe ereignete sich im November 1937. Eines Morgens wachen wir auf und unser Haus und unser Dorf sind von Soldaten mit Gewehren umzingelt. […] Die Soldaten sagen etwas, und die Erwachsenen weinen aus irgendeinem Grund. Dann wurde mir etwas klar. Menschen in schwarzen „Lederjacken“ brachten die Botschaft in unser Haus, alle in der gleichen schwarzen Kleidung: „Sie haben einen Tag Zeit, um sich für den Umzug an einen anderen Wohnort bereit zu machen.“ Ohne Anklage, ohne Untersuchung und Prozess, nur weil wir als Kurden geboren sind.
„Nehmt nur das Nötigste mit. Morgen werdet ihr auf Waggons verladen und weggeschickt.“ Bis jetzt erinnern sich unsere älteren Verwandten an dieses Wort – „verladen“. Als ob es nicht um Menschen ginge, sondern um irgendwelche Dinge, Müll. Wo, in welchem Teil der Welt, hat uns niemand erklärt. Oder was nützlich sein könnte, um sich unter den neuen Bedingungen einzuleben insbesondere angesichts des Winters.“ So erzählt Nadir Nadirov, Vorsitzender des Verbandes der Kurd:innen, über die Deportation nach Kasachstan.
Als Polen 1940 zwischen der UdSSR und dem Dritten Reich aufgeteilt wurde, wurden seine östlichen Gebiete – der moderne Westen der Ukraine und Belarus – an die Sowjetunion abgetreten. Auch die mehr als 300.000 dort lebenden Pol:innen waren Repressionen ausgesetzt: Sie wurden nach Sibirien, in den Ural sowie nach Kasachstan und Usbekistan zwangsumgesiedelt.
Die Lebensumstände der Deportierten
Die Siedler:innen wurden unter unhygienischen Bedingungen transportiert – in umgebauten Güterwaggons. Alte Menschen und Kinder konnten die beschwerliche Reise, die oft wochenlang dauerte, nicht ertragen. Die Leichen der Toten wurden manchmal einfach aus den Zügen geworfen.
„Am Bahnhof Ulukhanly wurden wir wie Vieh in Güterwagen gestopft, sie sagten uns nicht, wohin sie fuhren. Eine riesige Menschenmenge aus allen Dörfern, es gab Schreie, Kindergeschrei. Es fühlte sich an, als würden wir weggebracht, um getötet zu werden. Polizei und Militär wurden gerufen, um die Ordnung wiederherzustellen. Der Zug pfiff, bewegte sich vorwärts ins Unbekannte. Unterwegs starb der jüngere Bruder, durfte nicht wie ein Mensch begraben werden – die Zeit reichte nicht. Der Zug muss weiterfahren. An der nächsten Station wurde die Leiche den einfachen Menschen überlassen“, berichtet Zahra hala Nagieva, die aus dem Kaukasus vertrieben wurde, über die Reise.
Die unterdrückten Menschen, die in ihrer Heimat eigene Häuser und Haushalte hatten, waren nach der Umsiedlung gezwungen, sich an neuen Orten niederzulassen – teilweise unter völlig anderen klimatischen Bedingungen Tausende von Kilometern von ihren Heimatorten entfernt. Gleichzeitig waren die Lebensbedingungen unglaublich hart und entsprachen nicht den in den Dokumenten festgehaltenen Versprechungen „alles zu erstatten“: Dies bekannten sogar sowjetische Beamte.
Besonders hart war es für die Völker, die in der kalten Jahreszeit deportiert wurden – Hunderte Koreaner:innen zum Beispiel konnten den ersten Winter nicht überleben. Am häufigsten starben ältere Menschen und kleine Kinder.
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„Die erste Gruppe der Umsiedler – 5000 Haushalte – traf im Juni vor Ort ein. Zu diesem Zeitpunkt war […] noch kein einziges Haus vorbereitet worden. Die Siedler wurden in Zelten untergebracht, teilweise in den Häusern der umliegenden Bevölkerung, und ein erheblicher Teil blieb im Freien“, schildern lokale Beamte gegenüber NKWD-Chef Nikolaj Jeschow die Situation der umgesiedelten Deutschen und Pol:innen.
Zunächst mussten die Deportierten dort wohnen, wo es eben ging: in Unterständen, Zelten, Baracken oder bei Anwohner:innen. „258 Zelte und Baracken mit einer Kapazität von 20.000 Menschen wurden aus Leningrad zur vorübergehenden Unterbringung von Migranten an Umsiedlungsorten verbracht. Außerdem wurden 2000 Personen vor Ort verfügbaren Zelten zugeteilt“, heißt es einem Bericht des Leiters des Gulag, in dem es um die Unterbringung von „Siedler:innen“ aus der Westukraine geht.
Erste Berichte an die oberste Führung berichteten über die Einrichtung von Krankenstationen und anderen öffentlichen Einrichtungen. Aber die Realität war ganz anders als in den Regierungsdokumenten.
„Die sanitäre Versorgung der Deportierten war sowohl auf dem Weg als auch in den Ansiedlungsorten unzureichend. Dies führte zu einer Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten (Masern, Ruhr, oder Scharlach etc.) und einer hohen Sterblichkeit, insbesondere unter den Kindern. So starben am 1. September 382 Menschen, hauptsächlich Kinder, und mehr als 400 Kinder sind krank“, heißt es in einem Bericht lokaler Beamter wenige Monate nach der Deportation der Deutschen und Polen. Es dauerte viele Monate, bis der Staat, manchmal unter Einsatz der Arbeitskraft von Deportierten, Wohnungen für sie baute und Krankenhäuser und Schulen einrichtete.
Die Sondersiedlungen wurden zunächst dort errichtet, wo laut Behörden Arbeitskräftemangel herrschte. Die Deportierten sollten im Holzeinschlag arbeiten, Bodenschätze erschließen, die Fischerei entwickeln oder zuvor ungenutztes Land landwirtschaftlich erschließen.
Von allen deportierten Völkern hatten im administrativen Sinne nur die Koreaner:innen „Glück“: Sie waren nicht in den Sondersiedlungen des NKWD registriert und konnten problemlos in höhere und weiterführende Fachbildungseinrichtungen in Kasachstan und Usbekistan aufgenommen werden. Auch die Mitgliedschaft in Partei und Komsomol stand ihnen offen. Aber auch sie konnten sich ohne die Erlaubnis des NKWD nicht frei bewegen.
Andere Völker – darunter auch jene, deren Deportationen bereits während des Krieges begannen – wurden zu „Sondersiedlern“ und mussten sich täglich bei der Kommandantur melden. Unter Androhung strafrechtlicher Verfolgung wurde ihnen verboten, das Siedlungsgebiet ohne Erlaubnis des Kommandanten zu verlassen. Sie hatten auch keine Pässe.
Auf die aus Sicht der Regierung gefährlichsten Deportierten – und es war damals nicht schwer, diesen Status zu erlangen – wartete ein noch härteres Schicksal. Sie wurden in Arbeitslager geschickt, die heute oft unter den Namen Gulag firmieren (tatsächlich war das der Name ihrer Hauptverwaltung).
Der Pole Leon Krenicki erinnerte sich, wie sein Landsmann Kazik Żygadło an die Kolyma [das Kolyma-Gebiet war berüchtigt für seine Lager, Anm. d. Red.] gebracht wurde, weil er in einem privaten Gespräch seiner Empörung über die hohe Militärsteuer von 1941 Ausdruck verliehen hatte. „Er arbeitete von früh bis spät, kehrte zurück. Ein Bote des Kommandanten kam zu ihm mit dem Befehl, sich anzumelden und zur Arbeit zu gehen. Worauf Kazik bemerkte, dass er Hunger hatte. „Und was hast du in dem Topf auf dem Herd“, folgte die Frage. „Soll Stalin das essen!“ […] Kazik wurde zu einer weiteren Haftstrafe verdonnert“, berichtet der Sondersiedler über das Schicksal seines Landsmanns.
Auf offizieller Ebene wurde Angehörigen der deportierten Völker überall mit Misstrauen begegnet, sie fühlten sich als Menschen zweiter Klasse. Viele versuchten, ihren Namen zu ändern, um sich als „vertrauenswürdigere“ Person auszugeben: Russ:innen, Ukrainer:innen oder Belaruss:innen. Dies galt insbesondere für die während des Krieges deportierten „Verräter-Völker“, aber auch die Deportierten der Vorkriegszeit waren von den „internationalen“ sowjetischen Behörden mit Vorurteilen konfrontiert.
„Abends ging ich in den Flugverein, ich wollte Pilot werden. Aber am Ende der Schulzeit wurde mir gesagt, dass ich meine Zeit verschwende, sie würden mich nicht in der Flugschule aufnehmen. Ich musste mich von diesem Traum verabschieden, obwohl ich mich bereits auf Trainingsflüge vorbereitete. Meine Klassenkameraden, zwei Russen und ein Ukrainer, haben [die Zulassung] bekommen. Das war mein erster Schlag ins Gesicht. Es sollten noch mehr kommen.
Ich, im Herzen immer noch ein Junge, nahm mit Tränen in den Augen die Unterlagen und rannte zum Landwirtschaftlichen Institut der Fakultät für Forstwirtschaft. Man sagte, wenn ich die Prüfungen gut bestehe, nehmen sie mich an. Ich habe sechs Prüfungen bestanden, vier mit „Sehr gut“ und zwei mit „Gut“. Sie fingen an, diejenigen aufzurufen, die angenommen wurden, und ich konnte meinen Augen und Ohren nicht trauen: Sie rufen bereits Bewerber mit „Befriedigend“ auf, aber mich nicht. Ich gehe […] zum Direktor der Universität, und man sagt mir, dass ich nicht durchgekommen bin“, erzählt der Pole Eduard Lubczański, der als Kind aus der Westukraine nach Kasachstan umgesiedelt wurde.
Einfache Kasach:innen, die in den Umsiedlungsgebieten lebten, waren gastfreundlicher. „Allein im Bezirk Kellerow bauten Sondersiedler aus Podolien und Wolhynien 16 Dörfer. Die Kasachen aus den Nachbardörfern empfingen uns ruhig. Sie verstanden, dass es keine Eindringlinge waren – Märtyrer, die unter Eskorte ankamen und gewaltsam in einem fremden Land festgehalten wurden“, bemerkte Lubczański. Die Einheimischen sympathisierten mit den Deportierten und versuchten ihnen so gut wie möglich zu helfen.
„Im strengen Winter brachten sie uns kleine Kinder mit Mutter ins Gebiet von Aktjubinsk [heute Aqtóbe, Anm.d. Red.]. Selbst wenn wir in Karren fuhren, weinte meine Mutter darüber, wo wir gelandet waren: Schnee ringsum, einsame kasachische Wagen. Wir wurden bei einem Kasachen untergebracht, der auf einer Staatsfarm arbeitete. Er machte Feuer, stellte den Kessel auf, brachte uns Brot, Mehl, saure Sahne, Behälter. Er sah, in welchem Zustand wir waren: Eine Frau mit kleinen Kindern. Er kümmerte sich um uns, half immer. Die kasachischen Nachbarn besuchten uns jeden Tag, brachten Airan. Gott gebe, dass sie sich im Jenseits wohlfühlen“, erzählt eine zwangsumgesiedelte Deutsche.
„Zunächst halfen Einheimische – Kasach:innen, die hauptsächlich in der Viehzucht tätig waren. Sie teilten mit den Gästen, was sie konnten, jeder Haushalt, in dem geschlachtet wurde lud diejenigen zum Dastarhan ein, die ihren heimischen Herd verloren hatten. Als Zeichen der Dankbarkeit meldeten sich Armenier im ersten Frühling freiwillig, um in einem fremden Land einen Bewässerungsgraben […] für zukünftige Gemüsegärten zu ziehen. Sie pflanzten Mais, Kartoffeln, Rüben“, erzählte ein Armenier, der aus einem Dorf an der Grenze zum Iran umgesiedelt wurde.
Die Deportationen während des Krieges
Sechs Monate nach der Besetzung Moldaus und der baltischen Länder begann die UdSSR 1941 mit einer Säuberung von „Konterrevolutionären und Nationalisten“: ehemalige Parteimitglieder, Polizisten, Grundbesitzer, hochrangige Beamte und Offiziere. Die Opfer selbst wurden in den meisten Fällen für mehrere Jahre in Arbeitslager geschickt. Ihre Familienangehörigen wurden in abgelegene Regionen des Landes, einschließlich Kasachstan, deportiert. Man ging davon aus, dass die Lagerhäftlinge nach ihrer Entlassung wieder mit ihren deportierten Angehörigen zusammenkommen würden.
Die Deportation erfolgte im Juni – buchstäblich wenige Tage vor dem Einmarsch der Nazis. Auch die Westgebiete der Ukraine und von Belarus wurden einer zusätzlichen „Säuberung“ unterzogen: Dort wurde besonders auf Mitglieder nationalistischer Organisationen geachtet. Diese Deportationen waren nicht vollständig abgeschlossen, als der Zweite Weltkrieg begann. Einige Züge mit Deportierten wurden sogar von den Deutschen bombardiert. Während des Krieges fanden fast alle Totaldeportationen statt: Ihnen unterlagen die sogenannten „bestraften Völker“.
Der offizielle Grund für die Zwangsmigration war entweder Vergeltung für „Verrat“ oder dessen Verhinderung. Ganze Völker, vollwertige Sowjetbürger:innen, wurden Tausende von Kilometern von ihrer Heimat zwangsumgesiedelt, nur weil sie einer Nationalität angehörten, mit der ein Krieg geführt wird oder geführt werden kann.
Im ersten Kriegsjahr wurden die Sowjetdeutschen total deportiert. Ihre Familien lebten fast 200 Jahre – seit der Herrschaft von Katharina II. – im Land. Von Zwangsumsiedlungen waren fast eine Million Deutsche betroffen: zwei Drittel ihrer Gesamtzahl in der UdSSR. Deportiert wurden auch Finn:innen und teilweise während des Rückzugs der Roten Armee Italiener:innen, Griech:innen, Krimtatar:innen und Rumän:innen. Die Deutschen wurden teilweise mehrfach umgesiedelt: Wenn sich herausstellte, dass sie sich beim letzten Mal „nicht weit genug“ bewegt hatten und die Front bereits wieder näher rückte.
Die Deportationen wurden hastig und unter Geheimhaltung durchgeführt. Die Menschen wurden gezwungen, fast ihr gesamtes Eigentum aufzugeben. Rinder wurden Kollektivbäuer:innen gegen Quittung und mit dem Versprechen abgenommen, am neuen Ort Ersatz zu bekommen. Aber dieses Versprechen wurde – wie auch viele andere – nie erfüllt.
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Tatsächlich wurde fast das gesamte Eigentum der „Umsiedler:innen“ beschlagnahmt: Am neuen Ort mussten sie ihr Leben von Grund auf neu beginnen. Wie schon während der Deportationen der Vorkriegszeit wurden sie in Güterwaggons transportiert. Den Menschen mangelte es oft an Nahrung und Wasser, viele starben an verschiedenen Krankheiten.
Viele „Sondersiedler“ – sowohl alte als auch neue – wurden während des Zweiten Weltkriegs in die „Arbeitsarmee“ mobilisiert. Der Staat betrachtete die Deportierten als billige und mobile Arbeitskräfte: Sie wurden in verschiedene Betriebe und Baustellen verlegt, wo sie in eingezäunten Zonen mit bewaffneten Wachen und unter totaler Kontrolle die schwierigsten und anstrengendsten Arbeiten verrichteten.
Die Sowjetdeutschen waren hiervon besonders betroffen: Mehr als eine halbe Million Männer und ein Viertel der Frauen durchliefen die „Arbeitsarmee“. Ihre Kinder blieben damals entweder in der Obhut von Verwandten oder wurden in Kolchosen verbracht.
„Es gab strengen Frost. Sie brachten uns in eine Baracke in einer mit Stacheldraht umzäunten Zone. Sie sagten, dass dort vor uns Gefangene waren. Zweifellos wurden wir selbst zu Gefangenen: Türme an den Ecken des Zauns mit bewaffneten Wachen, ein Checkpoint mit strenger Kontrolle bei Ein- und Ausgang. Bei Verlassen des Territoriums drohten neun Jahre Lager in Sibirien. Für die ganze große Baracke gab es nur einen Eisenofen.
Wir schliefen in dreistöckigen Kojen aus ungehobelten Brettern. Sie ernährten uns schlecht: Sie gaben Kohlreste – Mehl in Wasser gemischt. Wir trugen Holzschuhe: Die Sohle war aus Holz und die Oberseite bestand aus Autoreifen oder Sackleinen. Die Arbeit war hart. Wir bauten eine Schmalspurbahn, arbeiteten in allen Bereichen, […] am Bau einer Ölpipeline. Die Frauen trugen Erde, die Männer gruben Gräben für die Ölpipeline“, berichtet Ivan Minich, der in die Arbeitsarmee mobilisiert wurde.
Totale Deportationen
1943 gelang es der UdSSR, den Kriegsverlauf zu ihren Gunsten zu wenden. Sie begann nach und nach mit der Befreiung der von den Nazis besetzten Gebiete. Damals begannen die Totaldeportationen, die als Akt der kollektiven Vergeltung für die „Verbrechen“ dienten, die nach Ansicht der Behörden von Angehörigen einer bestimmten Nationalität gegen den Sowjetstaat begangen wurden. Solche Deportationen beinhalteten die gewaltsame Umsiedlung aller Vertreter:innen dieser Ethnie an einen neuen Ort.
Natürlich war eine solche kollektive Verantwortung unfair: Mehr als 60 Millionen Sowjetbürger:innen, die in den besetzten Gebieten lebten, waren gezwungen, auf die eine oder andere Weise Kontakt zu den Besatzern aufzunehmen – und mindestens eine Million von ihnen, unabhängig von der Nation, taten dies sehr aktiv.
Gleichzeitig stellten sich viele Vertreter:innen der „bestraften“ Völker aktiv gegen das Dritte Reich: So kämpften beispielsweise 137.000 Krimtataren in der Roten Armee, von denen 57.000 in Schlachten starben. 46.000 Ahiska-Türken gingen an die Front, 26.000 von ihnen starben dort. Bei den Ahiska-Türk:innen lag die Sterblichkeitsrate nach offiziellen Angaben bei etwa 12 Prozent. Nach inoffiziellen Angaben könnte sie bei einem Drittel aller Deportierten liegen. Sie mussten zwei bis drei Wochen lang reisen und wurden mitten im Winter nach Zentralasien gebracht.
Wer später die Chance auf Rehabilitierung erhielt
Nach dem Krieg wurden die Deportationen fortgesetzt. Sie richteten sich gegen Nationalist:innen aus den besetzten baltischen Ländern sowie gegen Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Auch deren Angehörige wurden vertrieben. Viele Armenier:innen wurden auf ähnliche Weise unterdrückt – ihnen wurde vorgeworfen, mit Nationalist:innen der Daschnaktsutyun-Partei zusammenzuarbeiten.
Fast zehn Jahre nach Kriegsende war die Situation der „Sondersiedler:innen“ die gleiche: Sie arbeiteten in unerschlossenen Gebieten, wurden täglich bei der Kommandantur registriert und waren Voreingenommenheit und Diskriminierung durch die Behörden ausgesetzt.
Nach dem Tod Stalins und der Entlarvung des Personenkults durch Nikita Chruschtschow begann sich die Position der „Sondersiedler:innen“ zu mildern. Doch die Regierung handelte langsam und inkonsequent. Im Jahr 1954 wurden die gesetzlichen Beschränkungen für die Deportierten aufgehoben. Dies ermöglichte ihnen, sich gemeinsam im Land zu bewegen, beispielsweise für Geschäftsreisen. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass sie weiterhin nur dort leben durften, wohin sie deportiert worden waren.
Es dauerte jedoch einige Zeit, bis die regionalen Behörden dieser Anordnung nachkamen. Im Jahr 1955 beklagte sich das Kulturministerium der Kasachischen SSR darüber, dass „viele regionale Abteilungen und regionale Kulturabteilungen, Leiter von Unternehmen, Kollektivwirtschaften und Staatswirtschaften noch nicht verstanden haben, dass Sondersiedler alle Rechte der Bürger der UdSSR haben […], und diese weiterhin als Menschen „zweiten Klasse“ betrachten.“
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Wichtig ist auch, dass die Dokumente nicht als Rehabilitierung oder Eingeständnis von Fehlern formuliert wurden. Die Behörden stellten lediglich fest, dass das alte Kontrollregime „nicht mehr erforderlich“ sei. Als die nationale Autonomie der Tschetschen:innen und Ingusch:innen 1957 wiederhergestellt wurde, wurde sie als „Schaffung von Bedingungen für die Entwicklung“ beider Völker dargestellt. Ähnliches galt für die Karatschaier:innen und Kalmück:innen: Sie erhielten ihre nationale Autonomie zurück und konnten zurückkehren.
Deutsche, Krimtatar:innen und Ahiska-Türk:innen mussten auch darauf lange warten. 1972 wurde die Beschränkung aufgehoben, die den Deutschen die Rückkehr in ihre Heimat untersagte. Offizielle Aussagen zur Rehabilitierung gab es jedoch nicht. Bis zum Zusammenbruch der UdSSR kämpften die Krimtatar:innen für das Recht auf Rückkehr auf ihre Heimathalbinsel. Alle Nationen wurden erst 1989 offiziell rehabilitiert.
„Besonders bittere Erinnerungen führen uns zurück in die tragischen Jahre der Repressionen Stalins. Gesetzlosigkeit und Willkür gingen an keiner Republik, an keinem Volk vorbei. Massenverhaftungen, Lagermärtyrertum, mittellose Frauen, alte Menschen und Kinder in den Umsiedlungsgebieten stören weiterhin unser Gewissen und verletzen unser moralisches Empfinden. Das kann man nicht vergessen.
Der Oberste Sowjet der UdSSR verkündet die vollständige politische Rehabilitierung dieser Völker und verurteilt bedingungslos die Praxis der Zwangsumsiedlung als schweres Verbrechen, das im Widerspruch zum Wesen des sozialistischen Systems, den Grundsätzen der Demokratie und der Legalität steht“, heißt es in der Erklärung der genannten sowjetischen Behörde.
Der Artikel entstand im Rahmen des Projekts Decolonising Journalism des Journalistennetzwerks n-ost in Zusammenarbeit mit dem JX Fund und mit Unterstützung der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien.
Nikita Shamsutdinov für Masa-Media
Aus dem Russischen von Robin Roth