Der Ukraine-Krieg zwingt Kasachstan zu einem Balanceakt zwischen Russland und dem Westen

Das Regime von Präsident Tokajew weckt mit seiner Reformpolitik hohe Erwartungen. Zugleich spürt das riesige zentralasiatische Land seine Verletzlichkeit gegenüber dem mächtigen russischen Nachbarn.

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Das Monument der Unabhängigkeit (im Vordergrund links) in Almaty demonstriert das nationale Selbstbewusstsein Kasachstans. Doch die 1991 erlangte Unabhängigkeit von Moskau ist nicht völlig garantiert. Pavel Mikheyev / Reuters

Einst war er der «Vater der Nation», jetzt wird er schnöde übergangen. Im Eingangsbereich des kasachischen Nationalmuseums in der Hauptstadt Astana thront Nursultan Nasarbajew, in Bronze gegossen, auf einem Sessel. Überlebensgross blickt er gleich daneben von einem Wandgemälde.

Aber so unübersehbar Statue und Wandbild sind: Der beflissene junge Museumsführer nimmt den Namen nicht in den Mund. Er macht keinen Halt am bronzenen Denkmal. Es ist, als gäbe es den Begründer des modernen Kasachstan gar nicht; als spielte er hier, wo es um die historische Absicherung der kasachischen Staatlichkeit und Kultur geht, keine Rolle. Dabei hatte sich einst alles um Nasarbajew gedreht – erst recht in der nordkasachischen Steppe, wo er das sowjetische Städtchen Zelinograd zur mondänen Hauptstadt Astana ausbauen liess.

Januar-Ereignisse werfen Schatten
Nasarbajew hat binnen eines Jahres die Machtstellung und die Privilegien verloren, die er sich nach seinem freiwilligen Rückzug ins formell zweite Glied 2019 gesichert hatte. Mit der politischen Dynamik im autoritär auf die Staatsführung zugeschnittenen System hatte er nicht gerechnet, als er vor vier Jahren den Diplomaten Kasym-Schomart Tokajew zu seinem Nachfolger bestimmte und sich selbst eine übergeordnete Rolle als «Führer der Nation» zudachte.

Ein Denkmal für den früheren Staatschef Nursultan Nasarbajew in Almaty.Pavel Mikheyev / Reuters
Ein Denkmal für den früheren Staatschef Nursultan Nasarbajew in Almaty. Pavel Mikheyev / Reuters

Die Spannungen im System traten im Januar 2022 auf dramatische Weise an die Oberfläche. Nicht nur breitete sich der Unmut politisch und sozioökonomisch Unzufriedener rasend schnell in dem ganzen, riesigen Land aus, nachdem Proteste über Preiserhöhungen für Flüssiggas im Westen Kasachstans ausgebrochen waren. In Almaty, der Wirtschaftsmetropole im Süden, überlagerte ein Interessenkonflikt in der Elite das friedliche politische Aufbegehren und führte zu einem zeitweiligen Kontrollverlust des Staates. Tokajew liess auf Demonstranten schiessen und sprach von im Ausland ausgebildeten «Terroristen». Ermittelt wird aber nicht gegen bewaffnete Marodeure und Extremisten, sondern unter anderem gegen eine Journalistin und Aktivistin, die zur falschen Zeit am falschen Ort war. Opfer werden zu Tätern gemacht.

Die sogenannten Januar-Ereignisse sind bis heute nicht wirklich aufgearbeitet und stellen ein gesellschaftliches Tabu dar. Tokajew halfen sie aber, die eigene Machtposition zu stärken. Er ersetzte Gefolgsleute Nasarbajews mit eigenen Vertrauten, versuchte alte Machtkonglomerate zu zerschlagen und kündigte politische und soziale Reformen an. Im vergangenen Sommer liess er über eine Verfassungsreform abstimmen, im November fanden vorgezogene Präsidentschaftswahlen statt, die von der Staatsführung als historisch gefeiert wurden.

Der Politologe Dosym Satpajew sieht die Parlamentswahlen vom nächsten Wochenende skeptisch. Pavel Mikheyev / Reuters
Der Politologe Dosym Satpajew sieht die Parlamentswahlen vom nächsten Wochenende skeptisch. Pavel Mikheyev / Reuters

Tokajew sicherte sich dabei mit grosser Stimmenmehrheit eine nunmehr siebenjährige Amtszeit. Dies spiegelt zwar eine durchaus reale Unterstützung für seine Reformversprechen und zugleich grosse Erwartungen, die in ihn gesetzt werden. Aber Tokajew hatte, ganz im Stil früherer Wahlen, keine Konkurrenz zu fürchten, die ihm hätte gefährlich werden können. Insofern unterschied sich die Wahl gar nicht so sehr von früheren.

Beleben die Parlamentswahlen die Politik?
Wenn Tokajews Chefberater Jerlan Karin im Gespräch mit ausländischen Journalisten behauptet, die Gesellschaft sei konsolidiert und nur ein paar vernachlässigbare radikale Kräfte hätten andere Vorstellungen von der Entwicklung als der Präsident, dann verkennt die Führung aber die tiefen Gräben. Den bekannten kasachischen Politologen Dosym Satpajew wundert das nicht. Er glaubt nicht an echte Veränderungen unter Tokajew. «Wenn du ein Produkt des Systems bist, dann verkörperst du es auch», sagt er bei einem Gespräch in Almaty. Tokajews Reformen wertet er als Imitation.

Dabei hatte Nasarbajew nach Meinung Satpajews gerade mit der Imitation von Veränderung Kasachstan in den Stillstand manövriert. Der Rest an Pluralismus versiegte in der Politik, den Medien und der Gesellschaft; die Institutionen wurden zugunsten der personalisierten Herrschaft ausgehöhlt. Nach Ansicht Satpajews führte das zu den Januar-Ereignissen: Die Konflikte spielten sich innerhalb der Eliten ab statt in den Institutionen. Gelinge es Tokajew nicht, jetzt die Institutionen – Parlament, unabhängiges Justizwesen – zu stärken, werde sich bei seinem Abgang das Szenario wiederholen. Mit dem Unterschied, dass das Vertrauen in Tokajew eine viel kürzere Halbwertszeit habe, als das bei Nasarbajew der Fall gewesen sei.02

Während der Proteste in Almaty im Januar 2022 versuchten Polizisten, eine Strasse zu blockieren. Str / EPA

Satpajew sieht auch die Parlamentswahlen vom nächsten Wochenende skeptisch. Eine der wichtigsten Neuerungen ist aus Sicht der Staatsführung die Einführung eines gemischten Wahlsystems. Ein Teil der Sitze wird in Einzelwahlkreisen im Majorzverfahren vergeben. Das sollte unabhängigen Aktivistinnen, Politikern und Vertretern kleinerer Parteien Vorteile verschaffen. Davon erhofft sich der Politologe wenig; es ist für ihn das Beispiel für die Imitation einer Reform. Viel mehr Hoffnungen setzt er in die Politisierung von unten. Er ist optimistisch, dass aus zivilgesellschaftlichen Strukturen neue politische Führer erwachsen. Allerdings werden unabhängige Medien und politische Aktivisten auch unter Tokajew drangsaliert.

Hoffnung auf neue politische Akteure von unten
Bereits die Präsidentschaftswahl 2019, nach dem Rückzug Nasarbajews, war für das Regime ein Weckruf gewesen: Sie motivierte ganz neue, vor allem junge Aktivisten, sich politisch zu betätigen. Die Bewegung «Oyan, Qazaqstan!» (Wach auf, Kasachstan!) sammelte diese. Das Interesse an Wahlbeobachtung war gross. Ein offiziöser Oppositionskandidat, Amirschan Kosanow, erzielte einen Achtungserfolg, weil sich auf ihm die Stimmen derer vereinigten, die für echte Veränderungen waren.

«Die Führung hat Angst bekommen. Deshalb versuchen sie seither, die Bedingungen für Wahlbeobachter zu erschweren», sagt Irina Mednikowa. Sie leitet die Organisation Jugendinformationsdienst Kasachstan, die politische Bildungsarbeit für Junge anbietet und Wahlbeobachtungen durchführt.

Mednikowa glaubt, dass die Parlamentswahlen eine Belebung des politischen Systems bewirken – allein dadurch, dass wieder neue Parteien gegründet werden und es auch für gesellschaftliche Organisationen wie die ihre einfacher wird, Gleichgesinnte in der Politik zu finden. Nasarbajew, sagt sie in ihrem Büro am Rande der Innenstadt von Almaty, habe die politischen Institutionen zerstört und die Politik in den Augen der Bevölkerung zu einem dreckigen Geschäft gemacht, von dem man sich besser fernhalte. «Eigentlich wäre jetzt eine grundlegende Ausbildung des politischen Personals nötig», meint sie.

Auswirkungen des Ukraine-Krieges
Tokajews Reformpolitik findet in einem für Kasachstan überaus heiklen aussenpolitischen Umfeld statt. Russlands Krieg gegen die Ukraine betrifft das zentralasiatische Land mehrfach. Kasachstan pflegte stets eine grosse politische und wirtschaftliche Nähe zu Moskau, aber wehrte sich immer gegen zu grosse Vereinnahmungsversuche. Der mächtige Nachbar ist zentraler Wirtschaftspartner, bilateral und in der Eurasischen Wirtschaftsunion. Die Folgen der westlichen Sanktionen gegen Russland und der Zustrom russischer Immigranten haben für einen Inflationsschub gesorgt.

Kartengrundlage: © Openstreetmap, © Maptiler
NZZ / mac.

Kasachstan ist dem russischen und dem westlichen Druck ausgesetzt – die Russen wollen das Land für die Umgehung der Sanktionen nutzen, der Westen erwartet, dass Kasachstan die Sanktionen mitträgt. Astana versucht, weder die eine noch die andere Seite zu vergraulen und zu verhindern, womöglich selbst mit Sanktionen belegt zu werden. Es profitiert vom neuen Interesse des Westens an alternativen Rohstoffquellen und zieht Geschäfte an, die den Handel mit Russland abwickeln.

Dass Tokajew im vergangenen Juni am Wirtschaftsforum in St. Petersburg im Beisein Wladimir Putins eine Anerkennung der Unabhängigkeit der inzwischen von Russland annektierten Donbass-«Volksrepubliken» ablehnte, kam in Kasachstan gut an. Für den Politologen Dosym Satpajew ist klar: «Die Ukraine kämpft auch für Kasachstan.» Spätestens seit der Annexion der Halbinsel Krim durch Russland 2014 hält er Kasachstan für gefährdet. «Wäre es Putin gelungen, Kiew in vier Tagen zu erobern, wäre Kasachstan sechs Monate später dran gewesen», meint er.

Präsident Kasym-Schomart Tokajew im November bei der Zeremonie zur Amtseinführung nach der Wiederwahl.
Präsidialamt Kasachstan / Reuters

Er erinnert daran, dass immer wieder russische Funktionäre und Propagandisten Kasachstan vor einem ukrainischen Szenario warnten und territoriale Ansprüche geltend machten. Im Norden des Landes leben viele Russischsprachige, die von der russischen Propaganda beeinflusst sind und die Satpajew für eine «fünfte Kolonne» Russlands hält. Immer wieder prangern russische Diplomaten und Politiker den kasachischen «Nationalismus» und ein Zurückdrängen der russischen Sprache an. Das empfinden die Kasachen als Bedrohung. Die Zehntausende russischer Immigranten stossen auch vor diesem Hintergrund auf Skepsis in der Bevölkerung.

Neue Chancen für Kasachstan
Die Ukraine habe die russischen Pläne für Kasachstan durchkreuzt, glaubt Satpajew. Den Reputationsschaden Russlands hält er für gross. Der Krieg habe den Mythos vom starken Russland zerstört. Das wirke sich auf das Verhältnis zu China aus, aber auch auf das zu Zentralasien. Nicht ohne Grund habe der chinesische Staats- und Parteichef bei seinem Besuch in Kasachstan im vergangenen Herbst Pekings Bereitschaft betont, sich für die territoriale Integrität Kasachstans einzusetzen.

Satpajew bedauert, dass Nasarbajew es in dreissig Jahren verpasst habe, das Land stark zu machen. Kasachstan sei deshalb sehr verletzlich – «wie eine Schildkröte ohne Panzer». Grosse Chancen sieht er im neu erwachten Interesse des Westens an der Region und in einer engeren Zusammenarbeit mit der Türkei, etwa im Rüstungsbereich. Diese sei ein vielversprechender Partner, auch weil sie eine Art Brückenfunktion einnehme zwischen den USA und Russland.

Kasachstans geopolitische Lage und das Interesse daran, dass das Land sich Manövrierraum gegenüber Russland bewahren und im Innern stabil bleiben kann, lassen den Westen über Menschenrechtsverletzungen hinwegsehen, wie ausländische Beobachter im Land kritisch anmerken. Eher unerwartet wurden zur Parlamentswahl aber oppositionelle Aktivisten zugelassen, gegen die derzeit im Zusammenhang mit den Januar-Ereignissen ermittelt wird.

Das regionale Gefälle und jenes zwischen den sozialen Schichten dürften sich seit den letztjährigen Unruhen noch verstärkt haben. Präsident Tokajew demonstriert zwar Reformwillen und positioniert sich gegenüber Russland selbstbewusst. Die hohen Erwartungen, für die er eine Art Vertrauensvorschuss bekommen hat, kann er aber kaum erfüllen. Das politische und ökonomische Modell, das er von seinem Vorgänger Nasarbajew geerbt hat, ist noch lange nicht überwunden. Nasarbajew mag selbst im Museum Vergangenheit sein. Sein Geist wirkt noch weiter.

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