Ein Jahr Unruhe: Kasachstan will Reformen und engere Beziehung zum Westen

Die Reformbemühungen Kasachstans nach den jüngsten Präsidentschaftswahlen könnten das Land als wichtigen Partner für die Europäische Union positionieren, da sich die Region zunehmend der russischen Einflusssphäre abwendet.

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Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im November, die vom geplanten Termin 2024 vorverlegt wurden, waren die fünf Gegenkandidaten Tokajews praktisch unbekannt und keiner von ihnen erzielte ein zweistelliges Ergebnis, so dass die internationale Gemeinschaft ihre Fairness anzweifelte. [EPA-EFE/TIMUR BATYRSHIN]

Als Reaktion auf die groß angelegten Proteste im Januar versprach Präsident Kassym-Jomart Tokajew einen umfassenden politischen und sozialen Reformprozess. Inzwischen wurde die Verfassung geändert und die Machtkonzentration auf den Präsidenten zugunsten des Parlaments aufgelockert. Die Verfassungsänderung wurde zudem durch ein landesweites Referendum auch vom Volk gebilligt.

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im November wurde allerdings erneut Kritik laut. Denn die fünf Gegenkandidaten Tokajews waren vollkommen unbekannt und keiner von ihnen erzielte ein zweistelliges Ergebnis. In einem Wahlbeobachtungsbericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hieß es, dass es der vorgezogenen Wahl im November an „Wettbewerbsfähigkeit“ mangelte und dass Reformen notwendig seien.

Trotzdem hatte die EU die „umfassenderen politischen und sozioökonomischen Reformen“ in dem Land begrüßt, aber darauf gedrängt, „den politischen Pluralismus und die Beteiligung der Bürger am politischen Leben zu stärken“ und die Empfehlungen der OSZE „vollständig umzusetzen.“

„Wir stellen fest, dass es eine gewisse Debatte über bestimmte Themen gibt, auch wenn es keine aktive Opposition gegen den Amtsinhaber gibt, aber wir sehen, dass ein aktiver Dialog stattfindet, was vor fünf oder zehn Jahren in Kasachstan undenkbar gewesen wäre“, kommentierte Alberto Turkstra, Projektmanager bei Diplomatic World, einer vierteljährlich erscheinenden internationalen Zeitschrift, das Wahlergebnis auf einer Veranstaltung von EURACTIV.

Ihm zufolge wird sich die neue kasachische Regierung wahrscheinlich aus jüngeren, reformorientierten Technokraten zusammensetzen, was Teil des umfassenderen Vorstoßes zur Verjüngung des öffentlichen Dienstes des Landes ist.

„Auf wirtschaftlicher Ebene werden ehrgeizige Reformen bezüglich Oligarchen und der Monopolisierung der kasachischen Wirtschaft erforderlich sein, sowie ein ambitioniertes Programm für Marktreformen und die Konfrontation mächtiger wirtschaftlichen Interessen“, fügte Turkstra hinzu.

Eine wichtige Änderung nach dem Verfassungsreferendum im Juni war, dass Kasachstans erster Präsident, Nursultan Nasarbajew, seiner Befugnisse beraubt wurde, als er 2019 nach 29 Jahren an der Macht abrupt zurücktrat.

Tokajew hatte auch vorgeschlagen, das Mandat des Präsidenten auf eine einzige Amtszeit von sieben Jahren ohne das Recht auf Wiederwahl zu beschränken. Diese Praxis, die in einer Handvoll Staaten in Asien und Lateinamerika angewendet wird, ist in Zentralasien aber bisher nicht üblich.

„Die bevorstehenden Parlamentswahlen in der ersten Hälfte des Jahres 2023 werden eine sehr wichtige Gelegenheit für Kasachstan sein, seinen klaren Willen zu einem neuen Regierungsmodell zu demonstrieren“, sagte Dietmar Krissler, Leiter der Abteilung für Zentralasien im diplomatischen Dienst der EU (EAD), vor demselben Publikum.

Dies würde es nicht nur ermöglichen, seine wirtschaftlichen Beziehungen zur EU weiter auszubauen, sondern auch das Interesse der Union wecken, „eng mit Kasachstan bei der Verbesserung der Konnektivitätsoptionen zusammenzuarbeiten“, so Krissler weiter.

Die Stärkung der eurasischen Konnektivität würde nach Ansicht von Experten auch dazu beitragen, den russischen, chinesischen und iranischen Einfluss in Zentralasien zu begrenzen.

Ukraine als Wendepunkt
Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine befinden sich die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens in einer schwierigen Lage, in der sie versuchen, ein Gleichgewicht zwischen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland und ihrer starken Unterstützung der territorialen Integrität herzustellen.

Die zentralasiatischen Länder haben sich zunehmend gegen Moskau gestellt. Sie sind sich ihres neugewonnenen Einflusses bewusst geworden, da Russland ihre Märkte und Handelsrouten ins Visier genommen hat, um westlichen Sanktionen zu umgehen.

Im Falle Kasachstans hatte seine Neutralitätsverpflichtung im vergangenen Jahr mehrfach eine Reaktion Russlands ausgelöst. Moskau schnitt Kasachstan den Zugang zu einer von Russland kontrollierten Ölpipeline ab, auf die Astana angewiesen ist, um Rohöl in die EU zu exportieren.

Inzwischen hat Russlands Krieg die Landverbindung über die Neue eurasische Kontinentalbrücke unterbrochen, die durch sanktioniertes russisches und belarussisches Gebiet führt.

Laut Krissler wird der Mittlere Korridor diesen langfristig nicht vollständig als alternativen Handelskorridor auf Kosten Russlands ersetzen können, eine Option, zu der die EU derzeit eine Evaluierung vornimmt.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat Kasachstan in eine Schlüsselposition gebracht. Astana hat deutlich gemacht, dass es die Position des Kremls zu diesem Krieg nicht teilt und nicht bereit ist, Unterstützung zu leisten.

Die kasachische Führung ist jedoch nicht bereit, Putin direkt zu konfrontieren, auch in Anbetracht der 6.000 Kilometer langen Grenze des Landes mit Russland.

Institutionell ist das Land durch die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und die Eurasische Wirtschaftsunion an Moskau gebunden, und Analysten erwarten keine wesentlichen Änderungen, ohne einen offenen Konflikt zu riskieren.

In der Zwischenzeit haben der geopolitische Druck sowie innenpolitische Veränderungen und Reformen die zentralasiatischen Länder dazu veranlasst, sich um mehr Zusammenarbeit untereinander zu bemühen.

„Vier von fünf Präsidenten der zentralasiatischen Länder werden durch eine jüngere Generation ersetzt – wir hoffen, dass Zentralasien zu einem sehr wichtigen Player auf der internationalen Agenda wird“, sagte Mukhit Ardager Sydyknazarov, Forscher an der Eurasischen Nationalen Universität.

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