Xi‘an/München – Lange Zeit war Zentralasien ein vergessener Winkel der Erde, eingepfercht zwischen den Giganten China und Russland. Die fünf Staaten – Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan und Turkmenistan – lagen klar im russischen Einflussbereich, hervorgegangen aus der Sowjetunion und mit autoritärem Führungspersonal, das Moskaus Furcht vor „Farben-Revolutionen“ teilte. Sie galten viele Jahre als Drehscheibe des Drogenhandels von Afghanistan nach Europa, China und Russland, sowie als Nährboden für Islamisten.
Heute streben die fünf Staaten nach mehr Unabhängigkeit von Moskau. Dieser Trend ist eine direkte Auswirkung des Ukraine-Kriegs. Denn Russlands Präsident Wladimir Putin hatte seine Invasion der einstigen Sowjetrepublik Ukraine unter anderem damit begründet, er müsse die russische Minderheit in der Ost-Ukraine beschützen. In Zentralasien leben ebenfalls größere russische Minderheiten – und so wächst in den Hauptstädten die Sorge, Putin könne auch sie „befreien“ wollen. Das gilt vor allem für Kasachstan, dem Putin in einer Rede auch schon mal die eigene Staatlichkeit abgesprochen hatte. Russische Beamte und Medienpersönlichkeiten hatten immer wieder die Idee einer Invasion in Nord-Kasachstan ins Spiel gebracht. 23 Prozent der kasachischen Staatsbürger sind ethnische Russen, die vorwiegend im Norden des Landes wohnen.
Diese Unsicherheit macht sich nun China zunutze und baut in der Region seine wirtschaftliche und strategische Präsenz aus. Damit dringt die Volksrepublik in den Hinterhof des eigentlich in „grenzenloser Freundschaft“ mit Peking verbundenen Russlands vor. „China ist schnell eingesprungen, um Russland als regionale Ordnungsmacht und ‚Sicherheitsmanager‘ in Zentralasien abzulösen“, meint Stephen Blank, Strategie-Experte der US-Denkfabrik Foreign Policy Research Institute. „Diese chinesische Machtprojektion wurde auf dem jüngsten Gipfel in Xi‘an deutlich sichtbar.“
China: Einladung an fünf Staatschefs aus Zentralasien in die alte Kaiserstadt Xi‘an
Blank bezieht sich auf ein Gipfeltreffen namens C+5, zu dem Chinas Präsident Xi Jinping die fünf Staatschefs der „Stans“ in die alte Kaiserstadt Xi‘an geladen hatte, einst Ausgangspunkt der Seidenstraße, die Zentralasien Richtung Europa durchquerte. Die „Stans“ sind auch Partner in Xis Infrastrukturprogramm Neue Seidenstraße. Das gewaltige Projekt hatte Chinas Präsident vor zehn Jahren ausgerufen hatte, und zwar in Kasachstans Hauptstadt Astana.
Die Region ist für China wichtig als Handelskorridor nach Europa – und als Lieferant von Rohstoffen. Neben Erdgas und Öl verfügen die Staaten Zentralasiens etwa über Kupfer, Quecksilber, Antimon, Gold und Uran. Für den Transport dieser Rohstoffe braucht China ein Netz neuer Infrastruktur, das Xi in seiner Rede auf dem Gipfel mit der historischen Seidenstraße gleichsetzte: „Die Autobahn China-Kirgisistan-Usbekistan, die über das Tianshan-Gebirge führt, die Schnellstraße China-Tadschikistan, die das Pamir-Plateau überwindet, die Rohölpipeline China-Kasachstan und die Gaspipeline China-Zentralasien, die die riesige Wüste durchqueren – sie alle sind die heutige Seidenstraße. Der rund um die Uhr verkehrende China-Europa-Eisenbahn-Express, die endlosen Ströme von Lastwagen und die kreuz und quer verlaufenden Flüge – sie sind die heutigen Kamelkarawanen.“
China und die fünf zentralasiatischen Staaten
China stehe bereit, Entwicklungsstrategien mit den fünf Staaten zu bündeln und gemeinsame Anstrengungen für eine Modernisierung voranzutreiben, betonte Xi in seiner Rede bei dem Treffen. China versprach auf dem Gipfel den Ausbau von Autobahnen, Eisenbahnen, Häfen, Konnektivitätsverbindungen, Pipelines und andere Investitionen im Rahmen der Neuen Seidenstraße. Kurz vor und während des Gipfels unterschrieb China dazu mehr als 100 Kooperationsverträge, darunter auch den Bau großer Wind- und Solaranlagen in Zentralasien.
Zentralasien: Wichtiger Rohstofflieferant für China
Schon Ende der 2000-er Jahre hatte China Russland als größten Handelspartner der Region überholt. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds haben Kirgisistan, Usbekistan und Turkmenistan 2022 jeweils mehr Handel mit China getrieben als mit Russland oder den G7-Staaten. Bei den chinesischen Importen aus der Region handelt es sich nach offiziellen Daten hauptsächlich um Rohstoffe, darunter Baumwolle, Öl, Erdgas und Kupfer.
Peking verhandelt derzeit zudem über eine neue Gaspipeline von Zentralasien nach China. Diese soll 30 Jahre lang jährlich 25 Milliarden Kubikmeter Gas aus Turkmenistan über Tadschikistan und Kirgisistan in die Volksrepublik bringen. Zugleich verzögert es eine Zusage an Moskau, das auf den Bau einer Gaspipeline namens „Power of Siberia 2“ drängt. Diese soll westsibirische Gasfelder mit China verbinden – Felder, von denen aus Russland vor dem Krieg Europa belieferte. Doch China scheint neben der ostsibirischen Pipeline „Power of Siberia 1“ derzeit nicht dringend eine weitere Verbindung nach Russland zu wollen. Auch Peking achtet auf eine Diversifizierung seiner Rohstofflieferanten, und das Motto der Risikominimierung gilt offenbar auch für Russland.
China will Russland als Sicherheitspartner Zentralasiens ablösen
Die wahre Bedeutung der Avancen Xis an Zentralasien aber liegt laut Stephen Blank vom Foreign Policy Research Institute „in den Bemühungen Pekings, Moskau als wichtigsten Sicherheitsgaranten in der Region zu verdrängen“. Xi betonte zum Auftakt des Treffens in Xi‘an: „Die Souveränität, Sicherheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der zentralasiatischen Länder müssen gewahrt bleiben.“ Danach habe Xi die „wohl radikalste und weitreichendste Neuerung der chinesischen Politik in der Region“ vorgestellt, sagt Blank: So erklärte China sich bereit, den Staaten beim Aufbau von Verteidigungskapazitäten zu helfen. Das ist neu, denn bisher erschöpften sich Chinas sicherheitspolitische Ambitionen in der Welt in verbalen Unterstützungsformeln. Auch bot Xi die Zusammenarbeit in der Strafverfolgung und der Abwehr von Cyberangriffen an. Solche Angriffe durch Online-Trolle sind ein beliebtes Zermürbungs-Tool Russlands.
„Xi sieht offensichtlich den Weg frei, Moskaus Unterordnung unter Peking zu verfestigen, indem er Russlands bisherige Vorrechte an sich reißt und gleichzeitig Chinas Einflussmöglichkeiten in Zentralasien ausbaut“, meint Blank. Doch ein Erfolg sei keineswegs ausgemacht, glaubt der Experte. „Die zentralasiatischen Staaten scheinen mehr daran interessiert zu sein, ihre Souveränität und Unabhängigkeit zu bewahren, als sich in eine Abhängigkeit von Chinas Großzügigkeit zu begeben.“ Die Region ist zudem stärker ins Blickfeld von EU und USA gerückt. Die EU beschloss 2019 eine Strategie für verstärktes Engagement mit Zentralasien. Außenministerin Annalena Baerbock reiste im November in die Region. Klar ist: Russland hat seine Rolle als dominierende Macht Zentralasiens durch die Invasion der Ukraine verspielt.